»At Home I Feel Like Leaving« behandelt Gefühle zwischen Scham und Freiheit. Der Ausgangspunkt dafür war eine Archivaufnahme aus dem Jahr 1995, in der ein Mann in einer Dorfdisco tanzt und sich dabei auszieht. Gerade hat der Film den Deutschen Kurzfilmpreis gewonnen, jetzt ist er in der Cinema Next Series kostenfrei als Stream verfügbar. Im Interview erzählt uns Regisseur Simon Maria Kubiena von der Arbeit mit Laiendarsteller*innen, vom »Parkplatz von Mariazell« und von seinem baldigen Langfilmdebüt.

»At Home I Feel Like Leaving« ist die nächste Veröffentlichung in der Cinema Next Series, die regelmäßig auf der Streamingplattform Kino VOD Club kostenlos spannende Filme von heimischen Filmtalenten präsentiert.
In deinen eigenen Worten: Worum geht es in »At Home I Feel Like Leaving«?
Simon Maria Kubiena: Es geht um eine junge Frau, die für einen Tag zurück in ihr abgelegenes Heimatdorf in den österreichischen Voralpen kommt, nachdem ihr Vater für mehrere Nächte im Wald verschwunden war. Zurück in ihrer Heimat begegnet sie dem vertrauten Gefühl von Enge und Verantwortung gegenüber ihrem infantilen Vater, der sich konstant in Schwierigkeiten bringt. In der Begegnung mit einer Jugendfreundin erwacht in ihr aber auch eine Sehnsucht nach Nähe und Unbeschwertheit. Wie in einem Spiegel erkennt sich unsere Protagonistin zunehmend in ihrem Vater, und während sich das Dorf auf das Sonnwendfeuer vorbereitet, keimt in ihr mehr und mehr die Frage auf: Laufe ich weg oder traue ich mich in die Gemeinschaft?
Der Titel impliziert bereits ein zentrales Gefühl, das sich durch den ganzen Film zieht. Was bedeutet dieses »Nicht-Dazugehören« für dich?
Der Titel möchte – so wie der Film – die Widersprüchlichkeit von Gemeinschaft und Familie, die Suche nach Nähe bei gleichzeitiger Angst davor greifen. Bleiben wollen, auch wenn man gleichzeitig in die vermeintlich sichere Distanz fliehen möchte. Mir ist das ein vertrautes Gefühl; die Sehnsucht nach Nähe aus Angst wie einen Ball unter Wasser zu drücken, sich auszuschließen, weil es sicherer erscheint, als Teil einer Gruppe zu sein. In Bezug auf »Zuhause« ist dieses Gefühl aber ein besonders ambivalentes. Wer kennt es nicht: am Familienesstisch wieder das alte Verhalten anzunehmen, sich beengt zu fühlen in der Rolle von damals, die man automatisch einnimmt und die sich doch auch irgendwie vertraut nach einem selbst anfühlt. Die Figur des Vaters ist hierbei eine Art Spiegel. Früher im Mittelpunkt der Gemeinschaft, verschwindet er heute im Wald, wendet sich ab, um gesucht zu werden. Dieser stille Ruf nach Aufmerksamkeit ist unmittelbar mit dem Gefühl des »Nicht-Dazugehörens« verbunden.
Das Drehbuch hast du gemeinsam mit Nicola Jakobi verfasst. Woher kam die Inspiration für diese Geschichte?
Auslöser war eine Archivaufnahme aus dem Jahr 1995 aus Kernhof in Niederösterreich, einem Ort, in dem ich seit meiner Kindheit tief verwurzelt bin: Ein Mann in einer Dorfdisco tanzt unbefangen zur Musik und zieht sich vor anderen aus. Nicola und ich haben in der Entwicklung reflektiert, welche Gefühle zwischen Scham und Freiheit diese Aufnahme bei uns auslöst. Für uns wurde daraus die Erinnerung einer jungen Frau an ihren Vater. Begleitet von der Frage, wie sein ungewohnt freizügiges Wesen ihre Beziehung beeinflusst hat, wollten wir erzählen, wie sich dieses Wesen im Laufe der Zeit verändert hat: Aus dem tanzenden Vater wurde ein Mann, der nächtelang im Wald verschwindet und sein Umfeld irritiert. Für uns kristallisierte sich mehr und mehr die emotionale Perspektive heraus, wie es dieser jungen Frau geht, die von ihrem Vater in die Elternrolle gedrängt wird und früh ihre Kindheit ablegen muss.
Wo wurde der Film gedreht und wie hat der Drehort eure Erzählweise beeinflusst?
Der Film wurde unter anderem in exakt jener Dorfdisco aus dem Archivvideo gedreht. Sie befindet sich in einem stillgelegten Sägewerk in Kernhof, im Bezirk Lilienfeld in Niederösterreich. Um die Überreste dieses Sägewerks herum, mittlerweile Lagerhallen, wo jährlich die Feuerwehr- und Sonnwendfeste stattfinden, haben wir unsere Motive gefunden. Gedreht wurde auch in St. Aegyd, Hohenberg und in der Walstern. Der Drehort war ein wesentlicher Bestandteil – in der Recherche wurde mir dieser Ort einmal bösartigerweise als »der Parkplatz von Mariazell« beschrieben. Das kommt daher, dass es sich um ein Tal entlang von Flüssen handelt, dessen Hügel höher und höher wachsen, das Licht und den Blick in den Himmel nehmen, ehe man mit Kernhof mehr oder weniger am Berg ansteht. Diese landschaftliche Komponente war zentral für das Gefühl des Films, veräußerlicht es schließlich auch das Innenleben der Figuren. Abseits dieser Wirkung hat die Unterstützung der Menschen aus St. Aegyd und Umgebung diesen Film geprägt – ohne sie gäbe es den Film nicht.


Wie hast du zu deinen Hauptdarsteller*innen gefunden? Gab es ein klassisches Casting oder eine längere Suche?
Unsere Casterinnen Zorah Berghammer und Magdalena Steiner haben in St. Aegyd gecastet, sich auf etwaigen Festln umgesehen und eine Ausschreibung in der NÖN platziert, um selbst die zu erreichen, die noch gar nicht wussten, dass und wie gut sie vor der Kamera wirken können. Im Laufe von etwa vier Monaten haben wir neben Gruppencastings in St. Aegyd, die immer mehr zu Konstellationscastings wurden, auch professionelle Schauspielende in Wien gecastet. Als sich im Prozess dann herausstellte, dass wir tatsächlich ausschließlich mit nicht-professionellen Schauspielenden vordergründig aus der Region arbeiten werden, war dann viel Zeit gefragt, um gegenseitig Vertrauen aufzubauen und auch die richtige Drehmethode zu finden. Konkret haben wir Katharina Loewert, die Jugendfreundin, in der Musikkapelle angesprochen, Richard Schmidt-Wonisch wurde von seiner Frau überzeugt, zum Casting mitzukommen, und Lisa Weber, eine Wiener Regisseurin, wurde von unseren Casterinnen bei einem Filmscreening angesprochen.
Im Zentrum des Films steht eine komplexe Vater-Tochter-Beziehung. Wie war die Arbeit mit den beiden Darsteller*innen, um diese intime Dynamik glaubwürdig herzustellen?
Wir haben im Casting viel von dieser Dynamik ausprobiert; man könnte wahrscheinlich sagen, dass bereits hier die Proben anfingen. Lisa und Richard trafen sich öfters zusammen mit uns, wobei wir unter anderem unterschiedlichste Momente aus der Vergangenheit der Figuren improvisierten. Ein paar Wochen vor dem Dreh haben wir im Motiv der Wohnung mit unserem Kameramann Dennis Banemann zusammen eine Situation durchgespielt, in der wir anhand einer Szene außerhalb des Drehbuchs mit der Dynamik zwischen Vater und Tochter herumprobiert und dabei auch gleich das Motiv erforscht haben. Diese Situation drehten wir mit und probierten aus, wie die Drehmethode für die Darstellenden und auch für uns am wirksamsten funktioniert. Am Set gab es dann bei Bedarf immer einen kurzen Moment vor den Szenen, in denen die beiden sich aufeinander einlassen oder fokussieren konnten.
Etwas Ähnliches gilt natürlich auch für die Liebesbeziehung im Film: Wie habt ihr die Chemie zwischen den Darstellerinnen entwickelt – gab es gemeinsame Proben oder Improvisationen?
Hier war es eine ähnliche Herangehensweise. Wir haben im Vorhinein viel improvisiert und die Vergangenheit in einzelnen Momenten nachgestellt. Auch zum Beispiel direkt im Motiv des Wirtshauses. Konkret geprobt haben wir die Szenen aus dem Buch auch hier nicht. Bei den Proben ging es mehr um das Spiel mit dem Raum oder auch darum, dass sich Dennis und die Darstellerinnen synchronisieren konnten. Am Set bekamen die beiden wie alle anderen auch am Drehtag erst die jeweilige Szene, wir sprachen darüber und gingen die Positionen durch, ehe die Texte wieder weggelegt wurden und wir frei mit den frischen Dialogen im Hinterkopf an die Szene gingen. Vor den Szenen stimmten sich die beiden auch immer körperlich aufeinander ein und legten klare Grenzen fest. Innerhalb der Szenen improvisierten wir mit den inneren Haltungen der Figuren und deren Geschichte, um das Ungesagte auf unterschiedlichste Arten zu greifen, das, was sich zwischen den Figuren abgespielt haben könnte.
Welche Rolle spielt das Visuelle – Kamera, Licht, Raum – im Verhältnis zu den Emotionen der Figuren?
Im Vorfeld haben wir über die Themen gesprochen und wie sich diese im Außen widerspiegeln. Dennis und Emma Sophie Schaub, unsere Szenenbildnerin, kannten die Gegend auch schon vor dem Projekt. Im Fokus stand, ein Gefühl greifen zu wollen – die eingangs beschriebene Zerrissenheit zwischen väterlicher Nähe und väterlicher Bedrängnis und eine leise Befreiung. Dadurch hat sich die Kamera in die Protagonistin eingefühlt, die das Außen entweder als Bedrohung oder als etwas Schönes wahrnimmt, die nach Gesten der Nähe sucht. Wir haben aber auch mit Elementen gespielt, die eine Emotion visualisieren: So kamen wir unter anderem zu dem anfänglichen Blick durch die Heckscheibe oder auch zum POV beim Motorrad. Viele Plansequenzen probierten wir schon früh aus – ich kann mich erinnern, wie ich mit Nicola noch im Schnee die Annäherung im Fußball spielte oder wie unsere Produzent*innen Fabian Leonhardt und Lena Zechner dutzende Straßen durch die Heckscheibe filmten, um den passenden Eindruck für den Anfang zu finden.
Du arbeitest gerade an einem Langfilm im Talent Lab des Österreichischen Filminstituts. Wie sieht hier der Prozess aus? Kannst du uns zu dem Projekt schon mehr verraten?
In meinem Debütfilm »Das Blühen einer Chimäre« geht es um die Verstörung eines jungen Mannes, der sich schuldig gemacht hat und der keine Heilung durch sein familiäres Umfeld erfährt, weil dieses ihn nur lieben kann, wenn es die Schuld ausblendet. Der Film erzählt, wie er einen Umgang mit seinem Trauma in einer ungewöhnlichen Verbindung mit einem älteren Mann findet. Dieses Jahr war ich zusammen mit den Produzent*innen Elli Leeb und Fabian Leonhardt Teil von mehreren Entwicklungslabs und Festivals wie etwa La Résidence du Festival de Cannes, Cinelink in Sarajevo und Locarno Alliance 4 Development. Nun befinden wir uns in der Projektentwicklung im Talent Lab des ÖFI und fokussieren uns auf Casting und Motivsuche. Nebenbei recherchiere ich weiter und arbeite am Drehbuch. Seit November ist auch unsere Produktionsfirma Chimera Film gegründet, die »Das Blühen einer Chimäre« mit Panama Film und ZDF / Das Kleine Fernsehspiel koproduziert. Wenn alles aufgeht, können wir Anfang 2027 drehen.
Eine Interviewreihe in Kooperation mit Cinema Next – Junger Film aus Österreich.